Und so sagte er ihr, dass er wegen ihm geschnappt wurde, dass er die ganze Schuld auf sich genommen hat, damit er seine Ausbildung zu Ende machen kann. Er hat es freiwillig gemacht – wie man das so macht unter Freunden, unter Brüdern. Er war schon mal im Knast, für ein Jahr. Und hat danach nichts gelernt und weiter gedealt und will endgültig was daraus lernen und seine Strafe absitzen.
„Aber was hast du denn angestellt? Hat er selber angeboten dich zu decken?“, fragte sie nach seinem Monolog wie schlecht er sich doch fühlte.
„Willst du das wirklich wissen? Und ja natürlich ich würde ihn doch nie selber fragen.“
Sie machte sich eine Zigarette an, atmete laut in dem Hörer: „Natürlich will ich alles wissen, deswegen rufe ich an.“
„Du kennst doch die Jungs, die im Norden der Stadt dielen? Bei denen waren wir und überfielen sie, zwei wurden stark verletzt. Eigentlich hätten wir das so geklärt. Du kennst uns. Aber die Nachbarn haben die Bullen gerufen. Wir konnten abhauen aber die anderen haben uns verraten. Und er würde mich nicht verpfeifen, sagte er, weil ich ja noch eine Zukunft habe – und er nicht mehr. Wahrscheinlich glauben die Bullen den Jungs nicht ganz deswegen tappen die noch etwas im Dunkeln was wirklich passiert ist und wer beteiligt war.“
„Euer Ernst Leute! Wie im Kindergarten! Was wolltet ihr von denen?“
„Die haben sich in unserem Revier breitgemacht…“
„Das konntet ihr natürlich nicht auf euch sitzen lassen. Verstehe.“
„Genau.“, er atmete laut aus – vor Scham über sein Verhalten.
„Trotzdem seid ihr mehr als bescheuert. Wie oft habe ich ihm gesagt er soll mit den Drogen aufhören? Was war jetzt so schlimm daran mir das zu sagen? Wozu das Drama?“
„Keine Ahnung, wir wussten genau was du sagst und alles was du sagst stimmt…“
„Und das wolltet ihr nicht hören. Verstehe.“
„Genau.“
Sie starrte abermals aus dem Fenster.
Er sitzt ihm Knast. Und wird dort auch erstmal lange bleiben. Und er bleibt frei… macht seine Ausbildung zu ende. Und er sitzt im Knast – schon wieder und büßt für sich und für ihn – und er ist frei. Und ich bin nicht bei ihm. Was soll ich machen? Ich bin so verwirrt. Wie oft habe ich jetzt schon gehört: „Lass dich nicht auf Kriminelle ein! Das gibt nur Probleme.“ Wie recht sie doch hatten. Wie oft hatte er schon die Bullen am Hals? Wie oft hatte er eine Überdosis? Wie oft ist er fast abhängig geworden? … Wir mussten ihn alle zusammen ans Bett binden – damit er uns nicht an die Gurgel geht – kalter Entzug ist nicht schön – zu sehen und zu erleben. Wie oft hatte er ein blaues Auge nach einer Schlägerei – und kam damit zu mir – um 4 Uhr morgens? Wie oft musste ich ihn aus dem Krankenhaus mit gebrochener Rippe oder verstauchter Hand abholen? Wie oft habe ich schon seine Stichwunden genäht? Ich habe das alles stillschweigend hingenommen. – Wieso mach ich das eigentlich mit? Kann das wirklich Liebe sein? Bin ich vielleicht abhängig? Süchtig? – Wie oft haben wir uns gestritten? Wie oft haben wir uns geschlagen? Wie oft habe ich ihn nachts rausgeschmissen? – Und wie oft ist er am nächsten Tag mit Rosen und auf den Knien zurück gekrochen? Wie oft wollten wir schon heiraten und durchbrennen? – Genauso oft wie wir es nie gemacht haben – haben stattdessen einfach rum gespinnt und gekifft. Wie oft wurde ich schon in die ganzen Geschäfte reingezogen? Wie oft bin ich fast abhängig geworden? Wie oft haben sie sich alle und die Drogen schon bei mir versteckt? Erst in letzter Zeit lass ich mich da nicht mehr reinziehen. Und warum habe ich eigentlich keinen anständigen Beruf – sondern Kellner 12 Stunden am Tag? Eigentlich habe ich was Anständiges studiert – bloß nie zu ende. Selber Schuld natürlich.
Wenn ich so darüber nachdenke… hätte das alles nicht sein müssen. Ich hätte zu ende studiert, einen Job gefunden, hätte meine Eltern noch an meiner Seite, hätte jemand nettes kennengelernt, wir wären zusammengezogen und hätten ein normales langweiliges Leben, vielleicht hätte ich jetzt sogar schon ein Kind. Es ist aber es ist ganz anders gekommen: ich habe ihn auf einer fucking Party kennen gelernt – Klischee, hab mein Studium abgebrochen, hing nur noch mit seinen Freunden ab, hielt mich irgendwie mit Mini-Jobs über Wasser, irgendwie haben wir uns ja geliebt, und ich habe mich an dieses Leben gewöhnt, es wurde normal – Alltag, es gehört einfach dazu einen Filmriss zuhaben, Drogen auf dem Tisch liegen zu haben, einmal im Monat irgendjemanden von der Polizeiwache abzuholen, weil keiner high fahren wollte, nichts im Kühlschrank zu haben, kein Kontakt zu meiner Familie mehr haben, nichts mehr unter Kontrolle zu haben – und irgendwie gehörte das alles plötzlich dazu.
Es hat sich ganz natürlich angefühlt. Als hätte es so sein sollen. Als wäre es das normalste auf der Welt. Als wäre es vorherbestimmt und nichts hätte uns davon abhalten können. Ich spürte nichts von der Welt. Der Alkohol pulsiert im Schädel. Ich dachte an nichts. Es ist so als wären wir die einzigen gewesen in diesem Moment. Doch kaum lösten sich unsere Lippen schon hatte ich das Gefühl, dass die ganze Welt wieder auf meinen Schultern lastet. Er schaute mich an und ich ihn und wir wussten, dass es nur dieser eine Moment war und mehr war uns nicht bestimmt.