preloder

zwischendurch 2020

Ich dachte, ich würde dieses Jahr keinen Jahresrückblick schreiben, weil 2020 für uns alle schrecklich war. Doch gerade las ich wieder meine alten Beiträge zu diesem Anlass und musste teilweise schmunzeln, über meine Naivität und wie richtig ist dennoch war sich für 2020 nichts vorzunehmen. Es ist zwar noch lange nicht Zeit für jahresrückblicke (es ist der 31. August), aber 2020 hat sich jetzt schon so angefühlt wie 2 Jahre. Diesen Beitrag werde ich also wahrscheinlich ab und zu bis Jahresende ergänzen.

Was kann ich sagen was alles zusammenfasst und irgendwie schlau klingen und positiv stimmen? Ich will gar nicht erst versuchen global zu reflektieren – jeder einzelne war persönlich und ist noch von Covid betroffen – und darüber hinaus sind noch so viele weitere schreckliche, wichtige Dinge passiert. Zum Glück bin ich kein Fernsehjahresrückblick, um den Weltschmerz auf den Punkt zu bringen, hier geht es um einen eigenen ich-bezogenen Rückblick. Schön war es nicht, so viel sei gesagt. Auch wenn die Zeiten in meinem persönlichen Umfeld sehr schwierig sind, nehme ich mir dennoch Zeit für mich, um Kraft zu tanken und in kein Loch zu fallen und dadurch geht es bei mir wie in einer Achterbahn hoch und runter. Berg und Talfahrt, sag ich immer. Und letztens habe ich gesagt „Das Leben ist gar nicht schön wir sagen das nur damit es erträglicher wird“. Vor 2 Jahren habe ich noch durchgehend zu jedem gesagt „Leben ist schön“. Heute stehe ich relativ allein da – war ich damals auch schon, aber habe mir nie Gedanken darüber gemacht, ob die Freunde, die ich hatte, auch wirklich welche waren und das hat sich mir dieses Jahr offenbart. Ich will niemandem Vorwürfe machen. Niemand außer mir ist schuld daran, dass ich einsam bin. Ich habe mich darauf verlassen, dass die Leute, mit denen ich mich umgeben habe, meine Freunde waren, vielleicht war das temporär sogar so, aber wahre Freundschaften sind nicht temporär. Aber ich war schon immer gerne alleine und bin am besten alleine klar gekommen. Ich habe mir früher nie Gedanken darüber gemacht, aber rückblickend kann ich sagen, ich weiß nicht wie sich wahre Freundschaft anfühlt.

 

Ich hetze mich auch nicht – bei gar nichts – eine weitere Eigenschaft, die ich sehr schätze, auch wenn das Leben kurz ist, will ich mich nicht fertig machen, wenn es nicht sofort klappt und wenn es auch etwas länger dauert. 2020 war echt eine holprige Fahrt. An manchen Tagen konnte ich absolut nichts finden wofür ich dankbar sein konnte. Es fiel mir so schwer für kleines dankbar zu sein, wenn alles um dich herum einzustürzen droht und an manchen Tagen war ich für eine kleine Seifenblase dankbar, welche ich vom Balkon aus sehen konnte. Auf und ab. Ich habe viele Dinge langsam gemacht und mir in dieser verrückten Zeit viel Zeit genommen nichts zu tun. Gerne wäre ich in dieser freien Zeit kreativer gewesen, hätte gerne mehr geschrieben oder gemalt, aber alles was mir einfiel, worüber ich schreiben hätte können, wäre traurig gewesen und hätte mich trauriger gemacht als ich eh schon war. Also ließ ich es sein. Und meistens hatte ich auch gar nicht die Kraft etwas zu Papier zu bringen. So gönnte ich mir Tage und Wochen des Nichtstuns und kam entspannt zurück. Aktuell wird es jeden Tag besser, manche Gedanken lassen mich noch nicht los und an manchen Personen hänge ich auch noch fest, aber auch das werde ich mit der Zeit überwinden und alles schaffen was ich mir vorgenommen habe. In diesem Sinne…

 

09.09.  Gerade versank ich in einer mehrstündigen Spirale aus Youtube-Reportagen über Tilidin, den Abou-Chaker-Bushido-Beef, Chatschreiber auf Datingseiten, moderne Schneeballsysteme, Kriegsjournalismus und Krieg allgemein, Kinderarbeit und ich weiß dieser kleine, unbedeutende Jahresrückblick sollte kein globaler sein, aber verdammt nochmal auf dieser Welt geht es nicht um mich. Es ist so unendlich viel Leid überall auf dieser Welt. Woher kommt das ganze böse? So viel, dass man sich so unfassbar unbedeutend fühlt, einfach nicht weiß wo man anfangen soll, man will plötzlich helfen, weil man sich schlecht fühlt, wegen dem was man alles hat. Man fühlt sich so hilflos, weil man nichts beitragen kann, beziehungsweise nicht weiß wie und man am liebsten alles verbessern würde.

Als ich die Reportage über Kriegsjournalismus gesehen habe, standen mir die Tränen in den Augen, so schrecklich was passiert auf dieser Welt. Und ich kann hier sitzen in meinem warmen Zuhause mit Strom und Wasser und Internet und alles und mir den Kopf darüber zerbrechen und gleichzeitig sterben Leute. Leute werden um ihr Geld betrogen, Leute werden auf Kosten ihrer Gefühle belogen, Journalisten sterben im Krieg. Es war keine gute Idee mir all diese Dokus an einem Abend rein zu pfeifen und es hat mich schon mein ganzes Leben lang beschäftigt (auch wenn es sich klischeemäßig anhört) –  warum es Ungerechtigkeit auf der Welt gibt? Warum nicht alle in Frieden und gerecht Leben können? Nennt mich naiv Leute, aber ich habe es noch nie akzeptiert, dieses – es muss Krieg/Leid geben, damit es anderen gut geht – Bullshit. Ich glaube nicht daran. Das ist nicht, das kann nicht die Lösung sein, weil wenn das die Lösung ist, dass es Krieg, Armut, Ausbeutung Monopole und Lobbyismus geben muss, damit es ein paar Leuten gut geht, dann ist das Leben nicht schön.

 

Ich verstehe sehr gut, dass die Realität sehr viel komplizierter ist – welche Gründe und Ursachen es jeweils gibt et cetera und dass es sehr gute, wunderbare Leute gibt, die sich einsetzen, was Unternehmen und nicht nur wie ich geschwollen, naiv, pathetisch und vom Weltschmerz gequält darüber schreiben (aber was anderes kann ich nicht). Und trotzdem frage ich mich, warum gibt es so viel Leid. Warum gibt es das – und ich sage das jetzt so salopp – so viele böse Menschen? Wo kommt das alles her? In der Schule hielt ich mal ein Referat in Philosophie über die Frage was Gut und Böse ist und ob der Mensch von Natur aus gut oder böse ist. und wie so oft in der Philosophie hatte das Referat am Ende keine klare Antwort. Damals war das für mich halt ein interessantes Thema für ein Philo-Referat und heute beschäftigt es mich in meinem alltäglichen Gedanken. Mir ist klar, dass das total kindisch ist rumzuheulen und sich über die Ungerechtigkeit auf dem Planeten zu beschweren. Schlaue Mindset-Leute würden jetzt sagen, sei noch dankbarer für deine Privilegien – Bullshit. Wie soll ich dankbar sein und mir jedem Tag den Bauch vollschlagen, wenn Leute vor Hunger umkommen? – Und doch haben sie recht.

Und ich sage trotzdem nach dem ganzen pathetischen Bullshit, den ich euch erzählt habe, macht euch wenigstens ein einziges Mal wirklich – wirklich bewusst, so richtig wirklich bewusst, in welchem Privileg ihr lebt (ja nicht alles ist rosig, jeder hat Probleme, I know, nicht allen gehts gut, aber allein, dass hier in Deutschland kein Krieg herrscht reicht). Guckt euch Sachen über den Krieg an, guckt euch mal wirklich Bilder an, spürt den Schmerz, es soll sich schrecklich anfühlen. Und wenn ihr euch euer Position bewusst seid, dann seid dankbar (das gilt für mich übrigens auch) seid verfickt nochmal dankbar dafür und vielleicht bewegt es den ein oder anderen dazu irgendwas zu tun oder auch nur anders zu denken.

So unendlich viel Leid auf dieser Welt – einfach schon so – deswegen vermeidet jeden zusätzlichen Hass. Seid nett zueinander. Und ich kann es nicht oft genug sagen: liebt euch. all you need is love. love is all you need. make love not war. Ich weiß, dass es so unendlich platt ist und oft gesagt worden, aber es ist das wahrste auf der Welt. Und das ist meine Message love is the answer.

 

03.10. Habe ich nicht gesagt, ich will nicht über den Weltschmerz reden, weil das zu viel ist? Ja, ich halte mich auch nicht immer daran was ich sage. Ich höre jetzt auf wie eine dramatische Rednerin zu klingen und besinne mich. Das ist wahrscheinlich der längste Jahresrückblick, den ich bis jetzt geschrieben habe, auch von der Zeit her. Ich habe schon Ende August angefangen und immer noch ist dieses Jahr nicht vorbei. Ich habe letztens die Doku ‚the social dilemma‘ angesehen und war so davon eingenommen, wollte gleich noch was hinzufügen, aber dann besann ich mich wieder. Genug Appelle an die Gesellschaft. Vielleicht füge ich noch einen kleinen Gruß kurz vor Neujahr hinzu, aber das wars mit meinem Jahresrückblick. Ich bleibe dabei und ich wiederhole es gerne auch noch tausendmal love ist he answer. Liebt euch selbst und gegenseitig. Be kind. Wünsche euch ein frohes neues Jahr.

 

28.12.20 Sich das alles jetzt nochmal durchzulesen, nach all der Zeit – ist wild. Dieser Jahresrückblick war, wie mein Jahr, ein ständiges auf und ab. Momentan bin ich in einem Zustand mhm, man würde heutzutage lost sagen. Ich bin lost. Ich weiß nicht wie ich mich fühlen soll. Ich weiß nicht was die Zukunft bringt. Ich versuche einfach zu funktionieren. Deswegen sage ich euch wieder, seid dankbar und diesmal seid dankbar für eure Gesundheit. Vielleicht hör ich mich an wie eine alte Frau, aber dieses Jahr habe ich gelernt Gesundheit ist das wichtigste. Seid dankbar dafür, wenn ihr gesund seid und wenn eure Liebsten gesund sind. Wenn das gegeben ist, dann kann man alles andere schaffen. Krankheit ist das schlimmste was Menschen passieren kann. Das raubt uns alle Kräfte – den Kranken und den Angehörigen. Wahrscheinlich kann man das nicht nachvollziehen; über was ich spreche; wenn man Krankheit nicht selbst erlebt hat oder Angehöriger war; weil das so ein schreckliches, Leben zehrendes, zeitraubendes Unterfangen ist.

 

 

Tief einatmen und ausatmen. Ich besinne mich jetzt erneut. Komme zu einem Ende. Ich werde euch nix wünschen und mir wünsche ich auch nichts mehr.  Am 01.01.2021 wird nichts Neues passieren, es wird so weitergehen wie an dem Tag davor.

Es gibt Dinge, die wir selber beeinflussen können und das ist großartig. Diesen Dingen sollten wir positiv entgegentreten und an diesen Dingen sollten wir arbeiten, denn diese Dinge liegen eben offensichtlich in unseren Händen. Und es gibt Dinge im Leben, die können wir nicht verändern, die stürzen über uns ein und wir müssen diese akzeptieren und auf diese Dinge sollten wir uns nicht konzentrieren.

 

Eure Emi <3

krimi zwischendurch – Epilog: dunkelheit und irgendwie Liebe

 

Ein älterer Mann kam auf Limpa zu, stellte sich neben sie, fragte sie vorne heraus, ohne sich vorzustellen und betrachtete abwechselnd das Bild von Adam und dann Limpa: „Was sehen sie?“

Mittlerweile war es September. Ein Spätsommertag wie er im Buche steht, welchen Adam im Gefängnis in Italien verbrachte.

„Ich sehe Lust und Leidenschaft – auch für das Böse. Die Abgründe im Menschen.“, antwortete Limpa, ohne sich zu regen. Die Sonne schien hell durch die Fenster. Es war heiß in Köln.

„Ich sehe Dunkelheit und irgendwie… Liebe.“, sagte der Mann.

Sie betrachteten eines der letzten Bilder die Adam vor seinem Umzug nach Venedig gemalt hatte und es war auch eines der letzten von ihm, die hier zwischen neuen Werken der jungen aufstrebenden Künstler hingen. Man wusste inzwischen, dass Adam der unsichtbare Kölner war, aber von den Bildern konnte man sich trotzdem nicht trennen. Man hatte deshalb – auch wenn es makaber klingt – eine Ausstellung mit alten Bildern von Adam und Bildern von noch unbekannten Künstlern organisiert, um ihnen eine Plattform zu bieten. Man dachte sich, auch wenn Adam ein schrecklicher Mörder war, sollte seine Bekanntheit für etwas positives genutzt werden. Sie standen in Adams altem Wohnzimmer, wo Limpa früher gewohnt hat. Die Bilder standen alle auf Staffeleien quer in der Wohnung verteilt, in allen Zimmern, auch im Bad. Das Bild zeigte eine abstrakte Darstellung von einem Wald bei aufgehender Sonne, vielleicht der Wald, in dem er seine Opfer verbrannte. Die Sonne kroch zwischen den kahlen Nadelbäumen durch, als würde sie sich den Weg erkämpfen. Wenn man wollte, konnte man zwei Silhouetten vor der Sonne sehen, die sich anblickten.  Die einzigen Farben, die er benutze, waren schwarz, braun, gelb und orange. Wobei der laub- und nadelbedeckte, trostlose und dunkle Boden den größten Teil des Bildes stellte und die Sonne nur einen Bruchteil. Man konnte die eigentliche Helligkeit nur erahnen.

„Was halten Sie vom Künstler?“, fragte der Mann.

„Ich kannte ihn.“, sagte Limpa ohne sich vom Bild abzuwenden, sie trug ein leichtes, rotes Sommerkleid.

„Tatsächlich?“, er war ziemlich erstaunt.

„Ja. Wir hatten eine Affäre in seiner aktiven Zeit… in seiner aktiven Zeit als Mörder.“, fügte sie noch hinzu.

„Und sie haben nichts gemerkt?“, er blickte sie mit großen Augen an.

„Nein und dabei bin ich Polizistin. Ironisch – nicht wahr?“, sie lachte kurz auf und drehte sich zu ihm, aber als sie sein Gesicht sah, wurde sie ruckartig ernst, „Nein mir ist nichts aufgefallen… Wir haben uns einfach geliebt.“, sie fing an zu weinen.

Der Mann ging einen Schritt zurück und blickte um sich, ob nicht jemand in der Nähe ist, den man ansprechen könnte, er fühlte sich sichtlich unwohl.

„Oh ja wir haben uns wirklich geliebt und irgendwann fraß ihn seine Lust zu morden auf und er verließ mich.“, sie wurde wieder ruhig.

„Sie haben echt Liebeskummer nach dem schlimmsten Verbrecher in der kölner Geschichte, vermutlich in der Geschichte von Europa?“

„Ja.“, sagte sie ganz ruhig und ernst.

„Finden Sie nicht, dass das verrückt ist?“

Sie verzog das Gesicht. „Sie verstehen das nicht.“

„Das tue ich tatsächlich nicht.“, er suchte mit seinen Blicken den ganzen Raum ab.

„Das war vielleicht die einzig wahre Liebe in meinem Leben.“

„Sie kommen schon darüber hinweg.“, er versuchte tröstlich zu klingen.

„Aber geliebt werde ich nicht mehr.“

„Wie wollen Sie das wissen?“

„Ich ahne es.“

„So werden Sie nicht glücklich.“

„Das verlange ich auch nicht.“

„Sie sind verrückt.“

„Was braucht man schon zum glücklich sein? Liebe – mehr nicht.“

„Mag sein. Aber Liebe gibt es nicht nur in einer Form.“, er fasste sich ans Kinn.

„Mag sein. Aber nur eine Form ist erfüllend. Und meine Liebe ist vorbei. Ein gutes hatte es aber, wenigstens weiß ich wie es sich anfühlt.“

„Sie sind verrückt. Oh… ich glaube, ich wurde gerufen. Tut mir leid, ich muss leider … auf wied-… machen sie’s gut.“, er verschwand aus der Galerie.

Limpa lächelte traurig und betrachtete noch eine Weile das Bild.

krimi zwischendurch – Kapitel 9: Zuletzt in Venedig

 

Adam saß, die Haare lässig zurückgegelt, draußen an einem Tisch vor einem Café, obwohl es bitter kalt war, und trank seinen dritten Kaffee. Er lehnte sich entspannt nach hinten, packte die Zeitung weg und beobachtete die Menschen auf dem Markusplatz. Es war Februar, kurz vorm Valentinstag und ziemlich windig. Trotzdem tummelten sich die Touristen, fütterten die Tauben und tranken heiße Schokolade. Adam gegenüber ragte der Markusdom in die Luft, er packte seinen Zeichenblock aus und zeichnete einfach drauf los, zeichnete kein großes Ganzes, sondern hier und da eine kleine Szene aus dem Panorama an Potpourri aus Umgebung und Menschen die ihr Leben genossen. Er zeichnete einen kleinen Jungen, der mit seinem Hund spielte, eine Taube, die in die Gegend schaute, ein altes Pärchen, welches sich auf einer Bank ausruhte, den Kellner wie er hinter der Theke die Getränke zubereitete, den Bischof, wie er vor der Kirche stand und mit den Menschen redete. Es war bewölkt und ziemlich ungemütlich, die Sonne ließ sich nicht einmal blicken. Trotzdem ließen sich die Leute den Nachmittag nicht verderben. Zur Abhilfe wurden Wärmelampen aufgestellt, Decken verteilt, man zog sich noch eine Schicht wärmer an, man bewegte sich, hauchte in die Hände, wärmte sich gegenseitig, brachte sich zum Lachen und küsste sich.

 

„Liebeskummer?“

Limpa starrte aus dem Fenster. Val schmunzelte und ließ sich in ihren Stuhl plumpsen.

„Was sagst du?“, sie zuckte.

„Einen guten Morgen sage ich.“, Val schüttelte den Kopf.

„Morgen.“, Limpa drehte sich wieder zum Fenster und betrachtete das emsige Treiben auf den deutzer Baustellen.

„Vermisst du ihn sehr?“, erkundigte sich Valerie.

„Ich träume jede Nacht von ihm und jeden Tag denke ich an ihn.“, sie stütze den Kopf auf ihre Hand.

„Hat er sich mal gemeldet?“, fragte Valerie.

„Nein, gar nichts.“, Limpa seufzte.

„Wie konnte er dir das bloß antun? Ich fasse es immer noch nicht.“

„Hör auf Valerie!“

Aufs Stichwort kam Gabriel rein: „Womit soll sie aufhören? Was hat sie wieder ausgefressen?“

„Ach, ich habe sie lediglich daran erinnert, dass sie auch Gefühle hat und kein Polizeiroboter ist.“, Val schielte zu Gabi rüber.

„Limpa ist kein Roboter? Was?“, beide lachten.

„Ergötzt euch ruhig weiter an meinem Leiden.“

„Ganz im Gegenteil, wollen wir doch endlich, dass der Damm bricht und du richtig trauerst und Abschließen kannst – einen Monat schaust du schon aus dem Fenster – er wird nicht zurückkommen.“

„Ich weiß.“

„Ja dann hör auf aus dem Fenster zu starren!“

Sie drehte sich energisch um, jetzt wieder ihrem Schreibtisch zugewandt, Gabi und Val direkt anblickend.

„Na geht doch, dann kann ich euch ja wieder allein lassen.“

„Gabi was wolltest du denn eigentlich?“

„Stimmt! Was wollte ich denn eigentlich?“

„Die Akte?“, Val deutete darauf.

Er guckte an sich herunter und tatsächlich hielt er in seinen Händen eine blaue Mappe.

„Ach ja die Akte“, er legte sie auf Limpas Schreibtisch, die sich das Grinsen auch nicht mehr verkneifen konnte, „Ein neuer Fall Limpa, schau es dir mal an, schwere Körperverletzung mit anschließendem Raub – Tausend Euro in Bar und ein Goldring.“

„Wer schleppt denn so viel Geld mit sich rum?“, warf Val ein.

„Ein Dealer.“, sagte Limpa müde, sich die Akte anschauend, „Was soll ich jetzt damit?“

„Arbeiten.“, Gabi ging rückwärts auf die Tür zu.

„Aber das ist doch gar nicht mein Zuständigkeitsbereich?!“

„Arbeiten!“, rief er schon halb durch die Tür verschwunden.

„Gabi hat recht. Der unsichtbare Kölner ist bestimmt über alle Berge in Jamaika oder Panama, trinkt Schnaps und kokst. Wir sollten wieder die normale Arbeit aufnehmen.“, sagte Val.

Limpa nickte und schaute sich die Akte genauer an. Es könnte tatsächlich ein Dealer gewesen sein, der verletzt wurde oder ein dummer Kunde. Das Ganze geschah gestern Nacht gegen 3 Uhr in Mühlheim, Alter und Aussehen passt, dazu rote glasige Augen und ein Goldzahn anstatt des linken Eckzahns. Die Polizei soll zwar keine Vorurteile haben, aber doch arbeiten sie nach Stereotypen und laufen damit meistens recht gut, nicht immer, aber manchmal stimmt es einfach und Limpas Gefühl hat sie noch nie im Stich gelassen.

Nach einigen Minuten des stillen Lesens: „Und Kommissarin Wolf?“, Val trommelte mit den Fingern auf den Tisch, so wie sie es immer tat.

Limpa zuckte abermals und bestätigte Valerie zähneknirschend und eher gequält, dass das ihr neuer Fall war und die beiden das Opfer im Krankenhaus besuchen würden.

 

„Aber ich habe doch schon alles ihren Kollegen erzählt.“, sagte das Opfer der gestrigen Schlägerei, mit Verband um die rechte Wange (ein Backenzahn wurde ihm rausgeschlagen), nachdem Val und Limpa sich vorgestellt hatten.

„Ja, aber wir sind andere Kollegen und nehmen uns den Fall ganz genau vor.“

„Es war doch nur ne harmlose Schlägerei.“, er fing an zu lachen, hörte aber sofort auf, hielt sich die Wange fest und schaute abwechselnd zu Kommissarin Wolf und Topika.

„Und der Raub ihrer Wertsachen?“

„Ach das … ja das ist meine Schuld. Wer schleppt so viel Geld mit sich rum?“, wieder überkam ihn ein Lachen und ein anschließender Schmerz in der rechten Wange.

Valerie setzte sich mit ihrem Notizblock aufgeschlagen: „Fangen wir doch erstmal ganz von vorne an. Was ist gestern Nacht passiert? Kannten sie die Täter? Wie viele waren es? Erzählen sie mal Herr Rosner!“

„Wo fang ich da bloß an?!“, er grinste verschmitzt und kratze sich den Kopf.

Limpa und Valerie schauten sich an.

„Herr Rosner! Gut fragen wir anders, wohin waren sie gestern Nacht unterwegs?“

„Nach Hause.“

„Gut. Von wo kamen sie?“

„Vom Feiern. Genauer bin ich aus der Bahn ausgestiegen die mich vom Feiern, bis zu meinem Zuhause gebracht hat.“

„Wunderbar. Sie waren also auf dem Weg nach Hause.“, sie notierte etwas, „Was ist dann passiert?“

„Ich wurde von hinten getreten und fiel auf die Fresse.“

„Wie viele Angreifer waren es?“, sie blickte ihn direkt an.

„Ich bin mir nicht sicher… Zwei oder drei.“

„Kannten sie jemanden von denen.“, sie schrieb wieder etwas auf.

„Nein?“, er runzelte die Stirn.

„Wieso fragen sie das uns? Wir waren nicht da. Kannten sie die Täter oder nicht?“

„Ich ehm bin mir nicht sicher.“

„Hmm das ist nicht schlimm. Ist ihnen an den Angreifern etwas aufgefallen?“

„Ich w-… weiß es nicht mehr.“

„Gibt es etwas anderes an was sie sich erinnern können? Gerüche? Stimmen? Messer? Andere Waffen? Haben sie eher professionell oder amateurhaft gewirkt?

„Sie haben gar nicht gesprochen. Das ist doch eher professionell, oder?“

Valerie nickte und schrieb wieder was auf. Olimpia kniff die Augen zusammen.

„Eine andere Frage. Sie sagten sie waren feiern, warum der große Bargeldbetrag?“

„Geht sie das was an?“

Kommissarin Topkia ließ sich nicht beirren, sie wusste, dass er mit ihnen spielte: „Wer wusste alles davon, dass sie so viel Geld bei sich hatten?“

„Was wollen sie denn jetzt mit dem Geld?“

„Wir versuchen ein mögliches Motiv herauszufinden.“

„Niemand wusste davon. Die Typen hatten einfach Glück, dass sie sich genau mich zum überfallen ausgesucht haben.“, Rosners Miene änderte sich, er wurde ganz ernst.

„Also hatten sie eher das Gefühl die wollten von vornherein einfach Geld von ihnen?“

„Ja. Die haben einfach meine Uhr und meinen Ring gesehen und dachten sich: ‚Ach der Trottel kommt gerade besoffen aus‘m Club, der ist einfache Beute.‘ Das ist die ganze Geschichte.“

„Sie sind also ein zufälliges Opfer einer Verbrecherbande geworden, die zufällig das Glück hatten, dass sie tausend Euro in bar bei sich führten?“

„Exakt.“, er wurde wieder locker.

„Und es hängen keine Drogen und Händlerrivalitäten damit zusammen? Oder Schulden bei wichtigen Leuten? Oder anderes womit sie wichtige Leute verärgert haben könnten? Und jetzt sind sie loyal und halten die Klappe? – Damit hat das ganze nichts zu tun ne’? Herr Rosner sie wissen schon, dass die Polizei eine Institution ist“, sie zeigte ihm den Zeigefinger, „und wir alle Zugriff haben, auf Akten zum Beispiel von Vorbestraften? Und oh Zufall gehören sie Glückspilz zu den vorbestraften Dealern, gerade einmal einen Monat aus der Bewährung raus.“

„Ich bleibe bei meiner Aussage.“, sagte er reserviert.

„Gut, er fängt an so zu sprechen. Sie wollen bestimmt ihren Anwalt?“, Limpa hackte sich ein.

„Die Angelegenheit soll ganz über ihn laufen. Am Ende bin ich hier immer noch das Opfer.“, er verschränkte sie Arme vor der Brust.

„Ja eben und wir wollen die Täter schnappen, aber ohne ihre Hilfe wird das eher schwer.“, versuchte ihm Limpa zuzureden.

„Bin ich die Polizei? Nein, also machen sie ihre Arbeit und ziehen mich da nicht rein.“

„Gute Besserung!“, Limpa und Val verließen sein Krankenzimmer, ohne seine Verabschiedung abzuwarten.

 

„Was für ein Idiot!“, sagte Val auf dem Krankenhausflur, Limpa stach sie dafür in die Seite, „Was denn? Stimmt doch?!“, Val packte den Notizblock in ihre Tasche.

Limpa ging einfach weiter, ohne darauf einzugehen.

 

Zurück im Revier gingen sie in die Kantine, es gab Geschnetzeltes, und setzten sich zu Gabi an den Tisch, der Zeitung las.

„Und was jibt et neues?“, Val knuffte seinen Oberarm.

„Was verdächtiges.“, er wandte den Blick nicht ab.

Val und Limpa guckten sich lachend an.

„Verdächtig also?“, hackte Limpa weiter nach.

„Und zwielichtig.“, führte Gabi weiter.

Val guckte vielsagend zu Limpa rüber. Jetzt brachen sie gänzlich in Gelächter aus.

„Hast du zu viele Krimis geschaut Gabi?“

„Schaut es euch doch selbst an, ihr Hühner!“

Val schob ihr Tablett zur Seite, nahm die Zeitung von Gabi an, räusperte sich und las: „Neuer Serienmörder in Ven-e-Venedig“, sie hob kurz ihren Kopf und schaute zu Limpa, „Seit nun schon einem Monat verschwinden junge Frauen in Venedig und wenige Tage später wird ihre Leiche in einer Kanalgasse angespült. Es sind junge, Alleinstehende und Alleinlebende, hübsche Frauen zwischen 18 und 30 Jahren. Ihre Leichen sehen immer anders aus, mal erstickt, mal erstochen und mal wurde ihnen schlicht das Genick gebrochen. Um Sexualstraftaten handelt es sich nicht, auch wenn die Frauen ausschließlich nackt angespült werden. Und auch wenn die Frauen unterschiedlich getötet werden, geht die italienische Polizei vom gleichen Täter aus, weil das restliche Vorgehen ähnlich ist. Bisher wurden fünf Frauen gefunden, man geht von weiteren Opfern aus. Die Polizei ist trotz mehrerer Leichen ratlos, man findet einfach keine Spuren, weder an den Fundorten noch an den Leichen – und natürlich hat niemand etwas gesehen. Jungen Frauen wird geraten abends unter keinen Umständen allein Unterwegs zu sein. Venedig als gefährlicher Touri-Hotspot, der neue Hobbykeller vom unsichtbaren Kölner? Wir halten sie weiter auf dem Laufenden.“, Valerie schluckte laut, „Wir müssen dahin Gabi.“

„Sehe ich auch so.“

„Aber wieso erfahren wir das über die Zeitung? Wieso kam man nicht intern auf uns zu?“

„Weil wir persönlich darin verwickelt sind.“, warf Limpa ein. Gabi und Val starrten sie an.

„Gabi vielleicht, mit seinem mutigen Besuch bei Kurat, aber was habe ich damit zu tun?“, gab Val wieder zurück.

„Ich erinnere dich nur ungern an deine nächtlichen Ausflüge in den Wald Valerie, ein Wunder, dass sie dich nicht auf der Stelle suspendiert haben.“

„Ich habe damit aber Kurat gefasst.“

„Hat den fünf toten in Venedig wenig gebracht.“, bemerkte Gabi spitz.

„Na und wenn schon, wir haben ein Recht darauf es erfahren und selbst vor Ort zu ermitteln.“

„Italien ist nun wirklich nicht unser Zuständigkeitsbereich.“, sagte Limpa.

„Wir können den Beamten mit unserer Erfahrung helfen.“, Val nickte zu Gabi und suchte seine Zustimmung.

„Weil wir ihn hier so gut fassen konnten.“, sagte Limpa.

„Hey wir waren ihm auf den Fersen, red‘ doch nicht alles schlecht. Ich geh hoch und frag mal nach, ob nicht Herr Carnot und ich eine Geschäftsreise machen könnten. Oder willst du ihn nicht kriegen?“

„Versuch dein Glück.“, er zuckte mit den Schultern.

„Ich brauch kein Glück, mich mag er.“, Val schob den Stuhl an den Tisch und machte auf dem Absatz kehrt.

 

„Denkst du das ist eine gute Idee?“, fragte Limpa Gabi.

„Nein natürlich nicht, aber wir machen das trotzdem, damit sie abschließen kann.“

„Denkst du das ist der unsichtbare Kölner?“

„Wohl eher der unsichtbare Touri. Aber ja ich glaube das ist der Mistkerl.“

„Warum tut er es so auffällig?“

„Um geschnappt zu werden. Das wollen die verrückten alle. Also eigentlich wollen sie Aufmerksamkeit.“, er zuckte mit den Schultern und aß weiter.

Limpa lehnte sich zurück, ihre Augen wirkten abwesend, wie durch einen Schleier. Sie dachte nach. Kam aber zu keinem Schluss.

 

Nach einer Stunde kam Valerie zurück ins gemeinsame Büro von ihr und Olimpia, die starrte wieder aus dem Fenster. Valerie kam rein, aber Limpa reagierte nicht. Sie öffnete noch mal die Tür und schloss sie diesmal etwas lauter. Limpa drehte sich um.

„Und?“, fragte sie, als wäre nichts.

„Gabi und ich fliegen morgen nach Venedig.“

„Und lasst mich allein.“, stellte sie nüchtern fest, versuchte sich aber noch durch ein kleines Lächeln zu retten und sich nicht allzu sehr anmerken zu lassen, wie sehr sie das mitnimmt.

„Du bist freigestellt.“, sagte Valerie ernst, Limpas Mundwinkel gingen schlagartig runter.

„Freigestellt? Was?“, sie stütze die Hände auf den Tisch.

„Du solltest dich ausruhen, vielleicht zur Therapie gehen. Es ist schon lange überfällig.“, Val hielt sich an der Tür fest, als hätte sie Angst das Gleichgewicht zu verlieren.

„Auf wessen Anweisung?“, ihr linkes Auge zuckte.

„Helmut Weißner.“

„Wie kam er da jetzt drauf?“

„Er hat mich gefragt, wie es dir geht und ich habe geantwortet.“

„Mit welchem Recht tust du das?“

„Ich habe lediglich meine Meinung gesagt.“

„Deine Meinung?! Und wie lautet die?“

„Das du psychisch und körperlich erschöpft bist, hier auf Arbeit überfordert, mit niemanden redest und dich nicht um dich kümmerst.“

„Sag mal spinnst du?“

„Was denn? Ich habe es dir zu liebe getan. Du wirst mir noch dankbar sein.“

„Im Leben nicht. Du nimmst mir das einzige was ich noch habe.“

„Die Arbeit sollte nie das einzige sein was du hast. Du bist schon in deinen Dreißigern, du solltest eine Familie haben.“

„Meine Kollegen sind meine Familie.“

„Die sollten aber nicht deine einzige Familie sein.“

Limpa war jetzt richtig wütend: „Das hast du nicht zu entscheiden! Wie kannst du mir das antun! Mich so demütigen!“

„Limpa! Das ist doch kein Zeichen von Schwäche. Du bist auch nur ein Mensch. Gönn dir doch mal wirkliche Erholung. Bitte! Es wird dir besser gehen.“

„Es wird mir gar nicht besser gehen!“

„Limpa hör auf! Du tust doch nichts auf der Wache. Du sitzt hier doch nur rum und starrst aus dem Fenster und machst ab und zu die Ablage und Papierkram. Wäre Gabi heute nicht reingekommen, hättest du keinen Fall. Und allein schaffst du den gar nicht. Bitte sei vernünftig! Ich will nur das Beste, glaube mir.“, Val ging auf sie zu und wollte ihr die Hand auf die Schulter legen, Limpa schnaubte und drehte sich beleidigt zum Fenster.

 

Derweilen ging Adam in der Stadt spazieren und lächelte. Er kam gerade von seinem neuen Atelier, welches nicht gleichzeitig seine Wohnung war. Es war schön das Arbeit und Privates an zwei getrennten, sicheren Orten waren. Er mietete eine kleine Dachgeschosswohnung von einer alten Frau, die im Erdgeschoss wohnte, die meiste Zeit am offenen Fenster, auf die Ellenbogen gestützt. Das Atelier hatte ihm sein Onkel von seinem Bekannten besorgt – es war eine kleine, dunkle, leere Kammer. Adam ließ das Fenster vergrößern und richtete sich mit seinem Equipment ein. Es war zwar noch keine Ausstellung geplant, aber die Kunstszene in Venedig bekam natürlich mit, dass der berühmte Adam aus Deutschland in seine Heimat zurückgekehrt ist und drängelten ihn schon die ganze Zeit dazu seine Bilder zu zeigen. Doch er ließ sie zappeln. Kostete die Euphorie aus. Er hatte sich großen Namen gemacht.

 

Nach dem großen Streit mit Limpa ging Valerie nach Hause und packte ihren Koffer für die Geschäftsreise nach Venedig. Sie hatte große Hoffnung den unsichtbaren Kölner dort zu fangen. Sie beschloss einfach, dass er es war. Ihr Gefühl sagte es ihr. Am nächsten Morgen traf sie Gabriel im Flughafen Köln/Bonn.

„Gut geschlafen du Spürhund?“, neckte er Valerie, die noch ganz verschlafen war.

Sie knurrte.

„Noch zu früh?“, Gabi lachte.

 

Limpa saß auf ihrer Bettkante und überlegte was sie machen sollte. 5.37 Uhr. Sie war freigestellt, sie könnte sich nochmal hinlegen und nichts Schlimmes würde passieren. Fürs Erste war sie vier Wochen freigestellt. Sie könnte aber auch wieder ins Krankenhaus zu Rosner und ihn selbst ausquetschen, mit Valerie hat er eher nicht kooperiert. Valerie… die blöde Nuss. Aber was würde sie danach tun? Danach hatte sie immer noch vier Wochen Zeit rum zu kriegen. Sie könnte irgendwo in den Urlaub fahren, wo es jetzt heiß ist oder in irgendein Wellness Hotel in Düsseldorf. Sie könnte auch ihre Mutter besuchen oder mal wieder richtig Einkaufen und kochen, seit Wochen frisst sie nur noch Tiefkühlscheiß – Adam hatte sie mit seinem italienischen Essen verwöhnt. Adam… was er jetzt wohl macht? Sie fragte sich, ob er noch an sie denken würde. Schließlich entschloss sie sich nochmal hinzulegen, was die eigentliche Entscheidung nur herauszögerte.

 

In Venedig angekommen richteten sich Valerie und Gabriel in ihren Zimmern in einem schäbigen Hotel ein und machten sich direkt auf den Weg zur Wache. Man brachte sie auf den neusten Stand der Ermittlungen, die nicht viel anders aussahen als der Zeitungsbericht. Man zeigte ihnen Bilder der Opfer. Die Forensiker vermuteten, dass er sie in einen geschlossenen Raum führte und sie dort tötete, dann lässt er sie für einige Stunden dort und wirft sie im Morgengrauen in den Kanal, wo sie relativ schnell gefunden werden. Es ist sehr rätselhaft, dass ihn niemand dabei sieht, deswegen denkt man, dass er sie aus diesem geschlossenen Gebäude entweder durch die Hintertür oder sogar durchs Fenster wirft. Alles um die Fundorte herum wurde abgesucht, aber man fand nichts – zudem sind die Fundorte auch quer in der Stadt verteilt. Man hat sogar schon Interpol eingeschaltet und die italienischen Kollegen wirkten froh, über die Unterstützung der deutschen Beamten. Allesamt sind ratlos, wie genau er vorgeht und wie er es schafft an alles zu denken und warum er so ein verdammt großes Glück zu haben scheint.

Valerie begutachtete alle Berichte und Fotos, die die italienischen Kollegen gesammelt haben. Sie ging auch noch die alten Berichte von Limpa und ihr durch. Im letzten Jahr hat der unsichtbare Kölner und jetzt der unsichtbare Touri mächtig für Chaos gesorgt. Der unsichtbare Tourist – so verspottet die italienische Presse ihn und die Polizei – die unsichtbare Polizei sagen sie. Valeries Jagdinstinkt ist wieder geweckt. Sie will ihn schnappen. Dieses ekelhafte, perverse Morden soll aufhören.

Gabriel ist mit den einheimischen Beamten in die nächste Bar gezogen, nur Valerie ist noch geblieben und sah zum zich hundertsten Mal die Dokumente durch. Sie schrieb Olimpia gegen zwölf eine Mail, in der sie sich entschuldigte und erzählte, dass sie kein Stück weitergekommen sind. Valerie war wieder wie besessen, bereit sich wieder in irgendeinen Busch zu werfen und wochenlang zu warten, dass er aufkreuzt, um ihn auf frischer Tat zu ertappen. Nur diesmal hatten sie keinen Anhaltspunkt, er besann sich diesmal nicht auf das Stadtzentrum und diesmal war auch kein Wald in der Nähe – deswegen auch die Leichen. Er hatte seine Taktik geändert. Wie soll man ihn da kriegen, wenn er einfach wieder seine Taktik ändern kann? Dann sind alle gesammelten Indizien nutzlos.

 

„Valerie?! Du hast jetzt nicht im Ernst, wie in einem billigen Krimi hier im Büro geschlafen?“, Gabi kam rein – in einer Hand einen Kaffee in der anderen eine viel zu gutaussehende, große, lachende, italienische Polizistin.

„Valerie!!“, er schüttelte sie.

„He! Lass mich.“, sie nahm sich ein Foto von der Wange, was wohl über Nacht dort festgeklebt ist, wischte sich den Schlafspeichel vom Mund und brachte ihre Haare in Ordnung, die in alle Richtungen standen.

„Valerie, haben sie dich aus dem Hotel geschmissen? Oder hast du den Weg vergessen?“, er lachte herzlich und seine Begleitung mit ihm, obwohl sie offensichtlich nichts verstanden hat. Valerie starrte ihn für einen kurzen Moment entsetzt an und verließ die Wache dann ohne ein Wort zu sagen. Gabi schrie ihr noch hinterher, aber sie blieb nicht stehen.

 

Es war ein wunderschöner sonniger Tag im Februar. Einige Leute trieben sich auf den Straßen rum. Es war Wochenmarkt. Valerie ging ohne Umwege direkt ins Hotel und nach einer heißen Dusche und drei kleinen Kaffee ging sie grübelnd durch die Stadt. Was wenn ich hätte zu Hause bleiben sollen? Mich um Limpa kümmern. Und was fällt diesem Idioten Gabi eigentlich ein, mich so zu demütigen und mit dieser als Polizistin verkleideten Nutte aufzukreuzen? Sie stand wieder vor der Wache und überlegte, ob sie wieder reingehen sollte. Gerade wollte sie wieder kehrt machen, als Gabi sie aus dem Fenster entdeckte und zu ihr eilte.

„Valerie! Bitte bleib stehen! Warte! Ich habe mir Sorgen gemacht.“, er sprintete die Treppen runter.

„Welche Sorgen?“

„Nicht das es wieder so wird, wie im Herbst letztes Jahr.“

„Was geht dich das an?“, sie wich vor Gabi zurück, der sie am Arm packen wollte.

„Ich dachte wir sind Partner.“, er ging wieder auf sie zu.

„Partner lassen einen nicht einfach allein.“, sie schnaubte.

„Soll ich dich in Zukunft also noch ins Bett bringen?“

„Du weißt was ich meine.“

„Ja.“, er schaute auf den Boden.

„Du nimmst die Sache überhaupt nicht ernst.“

„Es tut mir leid.“

„Wir sind hier nicht zum Urlaub machen.“

„Ich weiß. Verzeih mir.“

„Gibt es was neues?“, sie wandte sich ihm wieder zu.

„Ja, ich habe Pause. Lass uns was Essen gehen.“

„Wo ist dein Ernst geblieben?“

„Das können wir beim Essen besprechen.“

Sie gingen zu einem Restaurant und unterhielten sich weiter über die Arbeit, sie gingen durch kleine Gassen und am Kanal entlang, über Brücken, über Plätze, die Kirchenglocken läuteten – Mittag. Valerie stieß gegen einen Mann, es war Adam. Er entschuldigte sich für das Missgeschick und wollte gerade weiter, als Valerie ihn von Limpas Fotos wiedererkannte – „Adam? Bist du es? Hallo, ich bin eine Freundin von Limpa.“

„Si, welch eine Überraschung“, sagte er mit leichtem Akzent.

„Ist die Welt nicht klein!“, warf Gabi ein, „Ich bin Gabriel. Valeries“, er zeigte auf sie, „und Limpas Kollege.“

„Schön sie mal kennen zu lernen. Was treibt sie nach Venedig? Und wie geht es Limpa?“

„Limpa geht es gut, ja sehr gut. Viel Arbeit. Und wir sind auch wegen Arbeit hier.“, sagte Valerie knapp.

„Arbeit also. Alles geheim?“

„Nein steht doch alles in der Zeitung, der unsich- aua.“, Valerie stieß ihn mit dem Ellbogen.

„Gabriel – wir dürfen nichts sagen.“, sie lächelte bemüht, „Nichts gegen dich Adam, aber so sind die Vorschriften.“

Er hob die Hände und wedelte herum: „Nein, nein ich versteh schon. Ich wollte sie nicht in Verlegenheit bringen.“

„Keineswegs.“, sagte Valerie, „Wir müssen jetzt leider wieder weiter – sie wissen ja – die Polizei schläft nicht.“

„Ja mit Sicherheit! Ciao Bella!“

„Ciao, ciao!“

Gabi winkte und lächelte ihm noch nach.

„Bist du bescheuert? Mach die Hand runter!“, sie haute ihm die Finger.

„Das war also Limpas Ex. Toller Typ. Aber was hattest du denn? Hab dich noch nie so unlocker erlebt. Richtig peinlich. Und die Polizei schläft nicht? Was sollte das?“

„Keine Zeit für sowas.“, sie zerrte ihn weiter über den Platz.

„Val, komm sag schon!“

„Ich finde ihn komisch. Er ist mir nicht geheuer.“

„Du redest doch quatsch. Du kennst ihn einfach nicht.“, Gabi lachte.

„Nein, an ihn ist etwas Sonderbares, dafür muss ich ihn nicht kennen. Er hat sich sehr verdächtig verhalten. Kaum hatte er Olimpia kennen gelernt, hatte er sie in seinem Bann. Sie war nur noch bei ihm. Überall. Seine Muse. Und dann wird er plötzlich so komisch, verschwindet, Stimmungsschwankungen, malt seine Bilder nicht mehr zu Ende und behandelt Limpa total schlecht, die ja wirklich alles für ihn getan hat, und zu guter Letzt verlässt er sie einfach – und geht nach Italien zurück? Einfach so. Sie meinte, er hätte nie darüber gesprochen zurück zu kehren.“

„Valerie, Künstler kann man nicht verstehen. Die sind eben, wie du sagst, sonderbar. An seinem Verhalten ist nichts komisch. Ja dann hat er Limpa nichts von seinen Italienplänen erzählt, vielleicht hat er ihr nicht vertraut und sich deswegen getrennt, weil es nur so ne kurze lockere Sache war.“

„Zieht man bei einer lockeren Sache nach dem zweiten Date direkt zusammen?“

„Ja, er fühlt eben intensiv. Vielleicht hat er auch was Hypnotisches auf Limpa, war wahrscheinlich das einfachste für ihn mit ihr zusammen zu ziehen, so sieht man sich mehr. Weiß nicht. Aber so wild Vermutungen anzustellen ohne Grund, ist doch bescheuert.“

Valerie zuckte mit den Schultern, „Mag sein, mag alles sein, aber ich habe trotzdem kein gutes Gefühl bei der Sache.“

„Du hörst dich schon so an wie in einem billigen Krimi. Kein gutes Gefühl! Kein gutes Gefühl!“, er äffte sie nach.

„Ja aber am Ende haben sie doch immer Recht.“

„Und vor allem was soll Adam schon angestellt haben? Sich von Limpa getrennt zu haben, ist nicht verboten und der erste ist er sowieso schonmal gar nicht. Klar sie hat etwas Besseres verdient, aber daran ist nichts sonderbar.“

„Nein das meine ich nicht. Es ist natürlich etwas was wir nicht wissen. Ein Geheimnis.“

„Adam hat ein dreckiges Geheimnis? Er ist ein erwachsener Mann, der vermutlich viel erlebt hat, mit Sicherheit hat er Geheimnisse. Und die gehen uns nichts an.“

„Ja das stimmt. Es geht uns nichts an.“

„Endlich konnte ich dich zur Vernunft bringen. Komm wir gehen essen.“

 

Ein dunkler Nadelwald. Die Sonne ging gerade auf. Es war neblig und feucht. Die Vögel zwitscherten nicht. Limpa ging durch das karge und doch schwer überwindbare Gestrüpp. Sie hatte das Gefühl, als würde sie durch Widerstand gehen, sie konnte sich nur ganz langsam fortbewegen, sowie wenn man gegen den Wind geht. Ihr Körper fühlte sich tonnenschwer an. Und doch wollte sie unbedingt weiter, sie hatte ein Ziel – eine Stimme. Sie wollte zu der Stimme, die sie rief. Eine bekannte Stimme rief süßlich ihren Namen. „Limpa, Limpa.“, ertönte es immer wieder leise. Doch auch am Ende des Traumes konnte die Kommissarin die warmklingende Stimme nicht erreichen. 10:51 Uhr. Limpa hatte Kopfschmerzen. Zu lange geschlafen – das soll ja bekanntermaßen auch nicht gesund sein. Sie machte sich einen Kaffee und setzte sich an den Küchentisch mit dem Blick aus dem Fenster. „Was für ein absurder Traum.“, dachte sie, „Ich habe schon monatelang nichts geträumt und dann das.“

Nach ihrem Frühstück war es schon fast zwölf und der Himmel klärte auf, sie beschloss joggen zu gehen, wie sie es früher immer gemacht hatte.

 

Es war der Sonntag nach Valentinstag. Es war noch früh, sehr kalt, dennoch sonnig. Ein Gondoliere wollte gerade seine Schicht beginnen und fuhr in den Kanälen herum – bis ihm etwas in der Ferne auffiel. Eine Hand ragte aus dem Wasser, an ihr ein glitzerndes Diamantarmband. Zuerst dachte er es wäre nur eine Schaufensterpuppe oder halt ein Teil davon, aber das Armband glitzerte so stark – dass er sich dachte, wie könnte jemand so etwas wegschmeißen. Er bewegte seine Gondel auf die Hand zu. Er erblickte jetzt auch einen Hinterkopf, die Puppe hatte langes braunes Haar. Er kam immer näher. Die leichten Wellen, erzeugt durch die Gondel schlugen am Steg nieder. Die Puppe bewegte sich leicht auf und ab. Bis auf das Armband war sie nackt. Alessandro, der Gondoliere, griff nach der Hand der Puppe – die Hand fühlte sich nicht nach der einer Schaufensterpuppe an – nicht hart und glatt – sondern wie Haut, er fühlte genauer. Zunächst leicht weggedreht, zog er die Hand etwas nach oben und blickte schließlich auf eine tote Frau. Er rief die Polizei, welche mit mehreren Booten und Blaulicht anbrausten. In einem von ihnen Valerie Topika und Gabriel Carnot. Bei nackten, toten, jungen Frauen im Wasser klingelten alle Alarmglocken. Auch dieses Opfer schrieb man dem ehemals unsichtbaren Kölner zu. Diesmal hatten die Beamten Glück. Die Leiche war noch nicht lange im Wasser, höchstens zwei-drei Stunden und Tod war die Frau auch erst zwölf Stunden. Irgendwo hier treibt er sich rum. In der Nähe des Palazzo Grassi. Die Leiche fand man direkt im Canal Grande, wo sich auch viele Touristen rumtreiben, wahrscheinlich nicht um diese Uhrzeit, aber nichtsdestotrotz – wie konnte ihn niemand gesehen haben? Die Polizei blieb dabei – er muss die Leichen aus einem Gebäude werfen, nur so sieht ihn niemand. Wie immer gibt es keine Spuren. Valerie saß im Polizeiboot und war entmutigt – sie sind ihm so Nah – zwei Stunden entfernt und doch so fern.

„Valerie kommst du?“

„Gibt’s was neues?“, sie blickte auf.

„Nein, ich dachte nur…“

„Was dachtest du?“

„Nun … ich will nicht, dass du allein bist.“, er wusste wie sehr sie dieser ungeklärte Fall mitnahm.

„Vielleicht ist das gerade besser so.“

„Komm lass uns arbeiten.“

„Was soll das bringen?“

„Was? Komm wir schauen uns in der Gegend um, was es hier so Verdächtiges gibt. Verräterische Gebäude, die nach einem Durchsuchungsbefehl schreien. Komm schon!“, er griff sie am Arm, sie erhob sich. Gemeinsam fuhren sie, mit Alessandro, durch den Canal Grande und blieben an jedem Haus stehen und fuhren dann auf dem Rückweg in einige Abzweigungen hinein. Eine Tür eines Wohnhauses ging auf und heraus kam Adam.

„Adam alter Freund.“, rief Gabriel laut und winkte energisch.

„Siehst du“, flüsterte Val.

Adam zuckte kurz zusammen, doch fing sich schnell wieder und setzte, wie mechanisch ein breites Lächeln auf: „Buongirono Raggazzi! Romantische Gondelfahrt?“

„Nein, wir arbeiten.“, antwortete Gabi.

„Das ist aber eine entspannte Arbeit, die ihr da macht.“, er lachte.

„Hast du es noch nicht mitbekommen?“, Gabi war verdutzt.

„Was denn?“

„Nun ja, es wurde eine Leiche gefunden. Nicht weit von hier. Beim Palazzo Grassi, vor etwa drei Stunden. Wir fahren die Gegend ab.“

„Ach was. Wie schrecklich. War es wieder dieser Serienmörder?“

„Vermutlich. Sag mal Adam, wohnst du hier?“

„Ja. Ich wollte auch gerade zur Arbeit.“

„Ach wie schön. Sollen wir dich mitnehmen?“, Valerie war nicht begeistert von Gabis herzlicher Art gegenüber Adam.

„Nein, nein. Ich will keine Umstände machen.“

„Quatsch, wir fahren sowieso wahllos umher, ohne zu wissen was wir suchen. Zeig uns dein Reich. Du bist ein berühmter Künstler und Valerie steht total auf Künstler. Nicht wahr? Wir wollen es uns ansehen.“

Valerie nickte, die Augen verdrehend.

„Na gut.“, er stieg umständlich ein.

Sie fuhren nicht weit. Sein Studio war nur einige Minuten entfernt.  Adam, Gabi und Val stiegen ab und ließen Alessandro weiter.

 

Adams Studio war recht klein. Es bestand aus nur zwei Zimmern. In dem einem, dem vorderem standen die fertigen Bilder auf dem Boden an die Wand gelehnt. Das hintere Zimmer war um einiges heller, durch das zusätzliche Fenster. In der Mitte standen einige Stative mit Leinwänden, auf einigen war ein angefangenes Bild zu sehen, einige waren noch weiß und unschuldig. Der Boden war mit Farbe bekleckert und viele offene Farbtöpfe und Pinsel standen rum. Aber viel konnten Valerie und Gabriel nicht erkennen, durch die offene Tür, Adam ließ sie nur ins Vorderzimmer.

„Du hast doch auch eine sehr schöne Arbeit Adam.“, bemerkte Valerie.

„Si, das ist wahr.“, Adam nickte zustimmend.

„Es war sehr nett von dir uns die Bilder zu zeigen. Danke. Aber wir müssen jetzt gehen.“, sie führte Gabi an der Schulter raus.

„Prego. Wir sehen uns.“, er öffnete ihnen die Tür.

 

Valerie und Gabi saßen in einem Wassertaxi und fuhren wieder zurück zur Wache.

„Und hast du Adams Geheimnis gelüftet? Mussten wir unsere Zeit unbedingt damit verschwenden? Wir jagen hier einen Serienmörder und nicht Limpas Ex.“

„Ich fands aufschlussreich.“

„Ach ja? Dann mal nur her mit deinen Aufschlüssen. Ich bin noch ganz ratlos.“

„Nun, er ist ein Mitteloser Künstler in Venedig. In Deutschland hatte er Geld, Ruhm und Erfolg. Vor irgendwas läuft er weg.“

„Schau doch wie viele Bilder er schon hat! Der Erfolg wird kommen. Und das Geld aus Deutschland hat er ja noch. Vielleicht will er bescheidener sein.“

„Ja aber wieso der Neuanfang?“

„Valerie, Adam ist nicht unser Fall. Wieso bist du überhaupt nach Venedig gekommen? Erinnere dich!“

 

Auf der Wache angekommen vergrub sich Valerie in die Berichte und Unterlagen vom heutigen Mord, Gabi hatte recht, sie musste ihre Aufmerksamkeit wieder dem wirklich Wichtigem zuwenden. Ein Kollege kam auf sie zu, als er sie am Tisch gesehen hatte, in den Händen einen gewöhnlichen Brief. Er sagte auf Italienisch: „Für dich. Streng vertraulich.“

Auf dem Brief stand ihr Name, die genaue Adresse der Wache und in Rot geschrieben „Nur vom Adressaten zu öffnen – streng vertraulich“. Valerie blickte um sich, niemand beachtete sie. Also öffnete sie den Brief. Und schluckte laut, als sie anfing zu lesen:

 

            Kommissarin Topika,

ich bin das Katz-und-Maus-Spiel satt. Natürlich hätten Sie den Fall lieber selbst gelöst, aber lassen Sie mir doch die letzte Genugtuung, Sie in meiner Hand zu haben – denn Monate tun Sie schon genau das, was ich von ihnen erwarte, dennoch bin ich beeindruckt von ihrer Arbeit. Ich respektiere Sie und deswegen will ich ihnen die Möglichkeit geben, mit mir zu reden und auch mir würde ein Gespräch mit Ihnen sehr gefallen. Die aktuelle Situation zwingt mich zu dieser Maßnahme – Sie sind zu nah – ich ergebe mich. Erzählen Sie keiner Menschenseele vom Brief oder, dass Sie sich mit mir treffen werden, denn diese Gelegenheit werden Sie sich im Leben nicht entgehen lassen. Sie kommen allein und unbewaffnet. Morgen um 22 Uhr Ponte di Rialto.

Ich verbleibe als ihr unsichtbarer Kölner

 

Valerie war fassungslos. Wieder blickte sie sich um. So als würden alle um sie gemerkt haben was sie das gerade gelesen hat. Doch jeder war mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Sie machte den Kollegen ausfindig, der ihr den Brief gegeben hat und fragte wann der Brief abgegeben wurde. Der Kollege sagte, dass ein Mann den Brief kurz vor zwölf vorbeibrachte.

„Da waren wir noch am Tatort“, dachte Valerie. Sie machte große Augen und ging zu ihrem Schreibtisch, ohne ein Wort zu sagen. Regungslos saß sie dort einige Stunden. Gabi kam auf sie zu: „Wollen wir Feierabend machen?“

„Du begleitest mich doch, oder?“

„Hast du Angst?“, er runzelte die Stirn.

„Frauen sollen doch nachts nicht mehr allein raus.“

„Natürlich begleite ich dich, wir wohnen im selben Hotel, in Nachbarzimmern.“

„Ja sonst gehst du ja immer schon viel früher.“

„Du willst doch nie früher gehen. Ist alles in Ordnung?“

„Ja“, sie schüttelte sich, „nur erschöpft.“

„Komm wir gehen. Darfst dich sogar einhacken, wenn du so Angst hast.“

 

Sie schlenderten zum Hotel. Valerie klammerte sich an Gabriel und ließ ihn nicht eine Sekunde los. Im Hotel fragte er sie, ob wirklich alles in Ordnung sei und Valerie wiederholte abermals, dass alles gut sei. Zum Abschied küsste sie ihn auf die Wange.

Am nächsten Tag kam sie erst spät zur Arbeit und ging auch schon früh. Sie ging ins Hotelzimmer und bereitete sich vor. Duschte sich, schminkte sich, zog sich was Frisches an und ging schon Stunden vor der vereinbarten Zeit zum Treffpunkt. Sie war so nervös, sie konnte nichts anderes tun, außer zu warten. Einige Leute trieben sich auf der Brücke rum, machten Fotos, redeten, küssten sich, schauten ins Wasser. Und dann schlug die Uhr 22 Uhr und nah hinter sich spürte sie jemanden atmen. Er flüsterte: „Nicht umdrehen!“

Es durchfuhr sie ein Blitz durchs Mark. Sie wusste sofort wer es war. Ihre Augen flogen nach links und rechts, sie überlegte ihren nächsten Schritt.

„Schick sehen sie aus Kommissarin. Etwa für mich?“

„Mir ist bewusst, dass ich sterben kann und ich wollte schön sterben, falls es heute sein wird.“

„Kluges Köpfchen. Sie haben bestimmt einige Fragen. Ich bin bereit.“

„Werden Sie ihr Geheimnis verraten, wie Sie die Spuren vernichten?“

„Ich hinterlasse erst keine.“

„Verstehe. Sag mir dann eins Adam, wie konnte Limpa von deinen nächtlichen Ausflügen zurück in Köln nichts mitbekommen? Du musst doch die ganze Nacht weg gewesen sein?“

„Ich habe sie betäubt. Jeden Tag kochte ich und mischte starkes Schlafmittel unter, genauso dosiert, dass sie am nächsten Morgen nicht müde war.“

„Du bist mir zu wieder.“

„Waren das alle Fragen?“, er packte sie an der Taille.

„Warum liebt dich die Presse?“

„Ich habe dort einige Freunde.“

„Pervers.“

Er amüsierte sich und verstärkte seinen Griff. Valerie wusste ganz genau, dass das nur eine Falle von ihm war und er niemals aufgeben würde, es würde schon reichen, wenn er sie aus dem Weg räumte.

„Warum tötest du?“, Valerie versuchte ein klein wenig Zeit zu schinden, um zu überlegen.

„Es energetisiert mich, wenn ich sehe wie das Leben aus ihren Augen verschwindet. Es gibt mir das Gefühl von Macht und Überlegenheit, verstehen Sie. Ich habe die Kontrolle über ihr Leben. Es ging mir nicht ums Vergewaltigen, das habe ich nie getan. Es ging immer nur darum zu sehen, wie sie das letzte Fünkchen Leben aushauchen.“

„Nein, ich verstehe es nicht. Du bist abartig.“

„Wenn Sie das sagen.“

„Eine Frage habe ich noch.“

„Ich bin ganz Ohr.“

„Warum Venedig?“

„Sie müssen wissen, Kommissarin Olimpia war mir sehr wichtig. Ich wollte nicht, dass sie in der Nähe ist, wenn alles hoch geht. Wenn alles schief geht, sollte sie in Sicherheit sein.“

Und während er ihr sein Herz öffnete, drehte sich Valerie ganz langsam zu ihm um, legte ihre Hand auf seine, welche er auf ihrem Rücken hatte. Sie packte fest zu, als er fertig gesprochen hatte und riss seine Hand ruckartig hinter seinen Rücken, sie tat dies so fest, dass seine Schulter fast auskugelte. Er schrie vor Schmerzen und ging zu Boden. Kommissarin Valerie Topika verhaftete Adam Coppola am 18. Februar 2019 auf der Ponte di Rialto.

 

„Olimpia?“, Valerie rief Limpa mitten in der Nacht an.

„Hallo Valerie? Was ist denn so spät noch?“, sie rieb sich die Augen.

„Olimpia, wir haben ihn. Ich habe ihn heute verhaftet.“

„Wen? Nicht etwa den unsichtbaren Kölner?“

„Der unsichtbare Kölner ist Adam.“

Es ist das einzig Richtige

Ich dachte, ich hätte mit dir alles, was ich gesucht habe. Aber so war es nie. Du warst nicht alles. Du warst nicht das was ich gesucht habe. Du warst nichts davon. Das zu verstehen, d a s zu verstehen – ja es tut nicht nur weh, es bricht mich. Zu verstehen, dass ich nie glücklich mit dir war, weil wir nicht das Richtige für einander waren – tut heute immer noch so unfassbar weh. Aber ich will, dir keine Vorwürfe machen. Du hast keine Schuld. Wir wussten es nicht besser. Ich dachte, alles mit uns wäre richtig. Du wärst richtig. Wir wären richtig. –  So hat es sich angefühlt. Zwei Menschen zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Ich war überzeugt.

Du hast nichts hinterfragt. Irgendwann kam dann die Ernüchterung.

Wir sind falsch.

Doch ich konnte mich nicht lösen. Zu sehr hing ich noch an den Gefühlen, die mir vorgaukelten, dass wir richtig sind. Und erst als die Kraft fehlte mir das weiter einzureden, konnte ich loslassen, woran du schon lange nicht mehr hieltest. Man fühlt sich irgendwie betrogen, wenn man realisiert, dass man nicht das für den Gegenüber war, was er für einen war – alles.

Ich weiß schon länger, dass ich dir nichts bedeutet habe, dass du mich schon längst vergessen hast, kein Wort mehr über mich verschwändest – doch trotzdem denke ich noch jeden Tag an dich und doch bin ich enttäuscht, obwohl es wirklich überflüssig ist.

Durch dich, mit dir und ohne dich habe ich mich so allein gefühlt. Ich fühle mich immer noch so allein. Einsam. Verlassen. Verraten. Von allen. Es ist ein Schmerz, den ich körperlich spüre. Ich bin schon mein ganzes Leben allein. Und bei dir dachte ich, endlich jemanden gefunden zu haben, der mich versteht, so wie du dachtest, in mir jemanden gefunden zu haben, der dich versteht. Wir wollten beide nicht mehr allein sein. Wir dachten beide, wir wären das einzig Richtige. Wir waren überzeugt. Doch wir sind falsch. Zusammen sind wir falsch.

Und klar zu kommen, wenn das was du für richtig hieltst plötzlich das Falsche ist, braucht Zeit. Wie, wenn man als Kind versteht, dass die Sonne beim Autofahren nicht hinter einem her fliegt, sondern die Sonne einfach riesig groß ist und man sie aus allen Blickwinkeln sehen kann – nur in traurig.

Dich zu lieben, da war ich überzeugt, sollte mich erfüllen. Dich zu lieben, sollte mich glücklich machen, da war ich überzeugt, doch es war das einzig Falsche.

was ist zeit?

Was ist Zeit überhaupt? Ist sie real oder ein Konstrukt, welches wir uns überlegt haben. Ist die Zeit die Stunden, die auf der Uhr vergehen? Die Jahreszeiten, die vergehen? Die Jahre, die in unserem Leben verstreichen? Der Verschleiß unseres Körpers? Ist es der Sonnenauf- und untergang? Was bedeutet es Zeit zu haben? Kann man Zeit als Besitz bezeichnen? Ist die Zeit nicht viel mehr das was über uns allen steht. Das Universum ist die Zeit und Zeit ist das Universum. Mit der Zeit kommt und geht alles. Alles ist vergänglich nur die Zeit, die bleibt und war schon da bevor alles da war. Die Zeit heilt, zerstört und lässt alles vergehen. Ich glaube nicht an Gott. Ich glaube an die Zeit.

_________

Wenn du dir die Zeit nicht nimmst, wirst du auch keine Zeit haben.

Kann man Zeit also nur haben, wenn man sie sich nimmt?

Kann man Zeit überhaupt haben oder hat die Zeit nicht viel eher dich?

Gerade weil die Zeit dich hat, ist es leicht sich von ihr einnehmen zu lassen.

Und wenn du dir die Zeit nicht nimmst, gibt die Zeit dir vor was deine Priorität ist.

Überlege dir, ob du dich von der Zeit einnehmen lassen willst oder ob du dir die Zeit nimmst und selbst entscheidest.

Und wenn du sagst, dass du keine Zeit hast zögerst du es (was auch immer es ist) einfach nur hinaus. Du lässt dich von der Zeit einnehmen und lässt ihr freie Hand, freies Werk, sich über dich zu ermächtigen.

Wer sagt, dass du keine Zeit hast? Du oder die Zeit? Oder hast du keine Lust dir Zeit zu nehmen, weil die Zeit dich hat. Sei ehrlich. Keine Zeit zu haben ist eine Entscheidung. Sich Zeit zu nehmen für sich, seine Leidenschaft, für andere – ist eine Entscheidung – wenn du sie nicht triffst, trifft sie die Zeit.