preloder

Meine Tochter

 

Meine Tochter kam ins Arbeitszimmer noch im Pyjama und verheulten Augen und in einem Arm ihren Teddybären. Ich sprang auf und führte sie zum Sofa. Ich fragte sie andauernd was los sei doch sie brachte kein Wort über die Lippen, weinte nur. So fing ich an wilde Vermutungen aufzustellen: „Ist es wegen einem Jungen? Hast du dich mit deiner Freundin gestritten? – wegen einem Jungen? Oder hast du dich mit Mama gestritten? Oder wirst du gemobbt im Cyberspace? – Ich hoffe nicht. Ist vielleicht jemand – ich weiß nicht – gestorben? Oder hatte jemand einen Unfall? Egal was es ist du kannst es mir sagen. Ist irgendwas mit dem Hund?“

Sie schüttelte nur den Kopf.

„Ich weiß es doch auch nicht. Was soll ich machen? Willst du was trinken? Wasser? Oder was stärkeres?“

Sie nickte – ich brachte ihr beides und wartete bis sie sich beruhigt hatte. Es war schlimm anzusehen, seine Tochter so zu sehen ist schrecklich und schlimmer ist, dass ich nicht weiß warum. Als die Tränen getrocknet sind und sie ganz ruhig so dasaß, wagte ich schließlich das Schweigen zu brechen und fragte sie was der Grund für ihren Kummer sei. Sie aber schnaubte, legte sich hin und drehte mir den Rücken zu.

„Ich glaube es nicht! Du kommst heulend zu mir und willst nicht reden und jetzt legst du dich wieder hin – um was? – Zu schlafen? – Ich glaube es nicht!“

Sie reagierte nicht. Ich ging in die Küche, wo meine Frau Kaffee trank und die Zeitung las. Ich fragte sie ob, sie was wusste. Aber sie gab mir keine Antwort, sondern lief ohne ein Wort zu sagen an mir vorbei ins Arbeitszimmer. Sie redete leise zu ihr aber ich hörte keine Antwort.

„Ich glaube sie schläft schon.“, sagte Babett beim Reinkommen.

„Hast du ne Ahnung was sie hat?“

„Nein, ich weiß so viel wie du.“, sie trank ihren Kaffee zu ende.

„Vermutest du was?“

„Nein.“, sie schüttelte den Kopf.

 

Und während meine Eltern diskutierten was mein Problem sein könnte schlief ich gar nicht, sondern lauschte ihren Ideen. Meine Eltern sind tolle Menschen. Sie haben alles richtiggemacht, bloß ich habe alles falsch gemacht, ich habe all die falschen Entscheidungen getroffen.

 

„Wie konnte uns denn in letzter Zeit alles entgangen sein?“, sagte ich leise eher zu mir selbst als zu irgendjemand anderen.

„Vielleicht ist sie eine gute Schauspielerin?“, sie zuckte mit den Schultern.

„Kann sein. Und was ist wenn es die ganze Zeit vor unseren Augen war und wir nichts gesehen haben und es sich immer mehr angesammelt hat und heute ist das Fass einfach übergelaufen?“

Papa könnte echt Hobbypsychologe werden.

„Und was wenn sie einfach eine schlechte Nachricht erhalten hat und früher ist nichts gewesen?“

„Vielleicht.“, ich setzte mich noch mal und stütze den Kopf mit einer Hand.

„Würde ich wirklich nicht merken, wenn meine Tochter traurig ist?“

„Das werden wir sicher bald von ihr erfahren.“

Nach dem Kaffee schlich ich mich ins Arbeitszimmer zurück und erledigte meine Arbeit weiter. Ich war seit zehn Jahren selbstständig mit meinem eigenen Unternehmen. Wir stellen Handwerker zum Hausbau zur Verfügung. Das Geschäft läuft gut. Den ganzen Vormittag lag sie da auf dem Sofa ohne sich zu bewegen, ich arbeitete weiter, ging mit dem Hund raus und machte mir noch einen Kaffee. Schließlich beschloss ich, dass sie genug Trübsal geblasen hat: „Süße, meine Kleine wach auf! Komm steh auf meine Liebe. Geh was Frühstücken! Komm! Oder soll ich dir was bringen? Nein? Auch gut. Komm dann geh in die Küche und iss was. Ich sag’s dir nach einem Frühstück sieht die Welt schon ganz anders aus. Du hast heute auch noch nichts gegessen. Mama ist arbeiten und kommt erst spät wieder also haben wir das Haus für uns.“

Was soll diese Psychonummer? Was will er erreichen? Dass ich meine Probleme weg esse? Vielleicht sollte ich mit der Sprache rausrücken, dann sind alle ruhiger. Ich saß in der Küche und aß, als er plötzlich quiekte: „Du bist aber nicht schwanger oder?“, so hysterisch habe ich ihn noch nie erlebt. „Natürlich nicht.“, ich musste mir ein Lächeln verkneifen.

„Oh sie redet endlich, ganze zwei Wörter.“

„Du machst dich also lustig über mich?“

„Nein, nein keineswegs.“, ich lächelte und versuchte durch sie hindurch zu blicken und auf telepathische Weise zu verstehen was los ist.

 

Er stand schon in der Küche und beobachte mich. Mein Papa war fünfzig und hatte auf dem Kopf schon eine kahle Stelle, er trug eine schlichte Brille und zum Arbeiten immer ein Hemd auch wenn er zuhause war. Er mochte es zuhause zu arbeiten, so konnten wir nämlich einen Hund haben, er konnte immer mit ihm Gassi gehen und so konnte er mittags für uns kochen und so konnte er immer für uns da sein und Mama konnte auf Geschäftsreise gehen, wenn sie wollte – das kam aber nicht allzu oft vor. Meine Mama ist fünf Jahre jünger als Papa und arbeitet als Journalistin bei einer Zeitung. Sie liebt ihren Job und macht ihn wie ich finde wunderbar oder wie ihr Chef immer sagt: „Ausgezeichnet, Frau Schubert, ausgezeichnet!“

Meine Eltern sind erfolgreich in ihrem Job, haben ein Haus, ein Hund, zwei Autos und eine Tochter – die letztes Jahr ihren Schulabschluss gemacht hat und dachte sie könnte so erfolgreich wie ihre Eltern werden und versuchte sich als Eventmanagerin – mit dem Ziel später auch mal selbstständig zu werden. Es passte zu mir, zu meinen Fähigkeiten und zu meinem Charakter – dachte ich. Meine Eltern waren total stolz bei jedem bisschen Verantwortung, die ich bekommen hatte und mit der ich prima umzugehen wusste. Ich reiste zwischen Deutschland, Belgien, Luxemburg und der Schweiz hin und her und half bei der Organisation von Partys, Firmentreffen, Ausstellungen, Blogger-Events, Festivals, Messen, Galas, Preisverleihungen und Privatpartys von Leuten mit zu viel Geld. Theoretisch würde ich in anderthalb Wochen nach Barcelona fliegen auf ein Festival. In fünf Monaten würde ich meine erste Zwischenprüfung schreiben – alles könnte so schön sein. Doch irgendwas ließ mich nicht los, dass ich etwas Falsches tue. Als würde ich irgendwo anders etwas verpassen, was für mich bestimmt ist, etwas Sinnvolleres, als blöde, unwichtige, Luxuspartys zu schmeißen. Durch meine Arbeit hatte ich natürlich viel mit den Leuten zu tun die solche Partys besuchten und Gastgeber waren und je mehr du mit diesen Leuten redest, desto mehr wirst du so wie sie. Ich fühlte mich so als würde ich mich häuten und zu einem perfekt gebräunten, durchtrainierten, Lippen-aufgespritzten, Zähne-gebleachten, Extensions-tragenden, verwöhnten Abbild meiner selbst werden.

Heute morgens hätte ich eigentlich eine Vorbesprechung wegen dem Event in Barcelona haben sollten aber ich habe mich Krankgeschrieben, weil als ich in den Spiegel sah – sah ich nicht mich – ich sah jemand ganz anderen – der gar nicht so war wie ich glaubte zu sein. Und das hat mir so viel Angst gemacht, dass ich da nie wieder hinwollte und in Tränen ausbrach. Es gab eigentlich keinen Grund so heftig zu reagieren aber vielleicht war es so wie Papa gesagt hat, dass ich es bis heute nicht gewusst habe und es sich über lange Zeit angesammelt hat. Fast ein Jahr habe ich unwichtige, belanglose Arbeit gemacht. Wieso konnte ich das ohne schlechtes Gewissen tun? Weil keiner ein schlechtes Gewissen hat, alle denken sie tun was wichtiges, tolles, Sinnvolles. Wären es doch wenigstens Wohltätigkeitsveranstaltungen – aber nein letzte Woche Samstag war ich auf der jährlichen Sommerparty einer Modezeitschrift. Mit 21 Jahren habe ich nichts für die Gesellschaft geleistet – was auch schon eine Leistung ist.

 

Ich schickte Valentina eine Weile mit dem Hund raus, frische Luft wird ihr gut tun, so lange sie nicht reden will. Manchmal muss man Menschen ihren Freiraum lassen – vielleicht weiß sie selber noch nicht genau was los ist oder wie sie es uns sagen soll. Was könnte sie so fertigmachen? Sie hat eine spannende Ausbildung, die ihr Spaß macht, wie sie selber sagt, hat keine Beziehung somit keine Beziehungsprobleme, hat viele gute Freunde die wir kennen, hat ein Dach über dem Kopf und mit uns hat sie auch kein Streit. Was haben wir übersehen?

 

Raus mit dem Hund gehen – dann geht es mir bestimmt gleich viel besser. Papa – der Hobbypsychologe. Nein, natürlich meint er es nur gut und wollte mir mehr Zeit lassen um mir über alles im klarem zu werden. Ich sag ja meine Eltern sind toll – wer wäre noch so rücksichtsvoll?

Als ich wieder kam beschloss ich Papa zu berichten, dass ich mich morgens früh vor mir selber erschrocken habe und im falschen Beruf stecke und nicht weiß wie es weitergehen soll. Er war nicht schockiert oder böse, nein er nahm mich in den Arm und sagte alles würde gut gehen, er würde mich verstehen und er würde mit Mama reden und sie würden mir helfen bei allem so gut sie könnten. Er gab mir einen Kuss auf die Stirn drückte mich nochmal kräftig, streichelte den Hund im Vorbeigehen und verschwand wieder in seinem Arbeitszimmer.

 

Da stand sie wieder in meinem Büro aber diesmal ganz ernst – fast verärgert.

„So einfach? Ich sage dir, dass ich nach einem Jahr meine Ausbildung schmeißen will und du bist der beste Papa der Welt und verstehst mich?“

Ich war verwirrt: „Soll ich dich lieber anschreien? Sicherlich muss ich das auch erstmal schlucken und verdauen aber ich kenne dich und weiß, dass du das Beste daraus machen wirst Schatz.“

„Aber…“

„Nichts aber Valentina.“

Sie blickt mich mit riesen großen Rehaugen an.

„Wieso sollte ich es dir noch schwerer machen?“

 

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